DER ERSTE DEUTSCHE KOMMUNIST

Wilhelm Weitling (1808-1871) – der vergessene Pionier der Arbeiterbewegung

Von Hans-Arthur Marsiske


(Erschienen in: SoZ Magazin, Jg. 12, Nr. 26, Weihnachten 1997, S. 22-24)

Um die Jahrhundertwende, dreißig Jahre nach seinem Tod, erinnerten sich die Arbeiter noch an ihn. Sein Porträt schmückte ihre Wohnungen und Vereinsräume – neben denen von Karl Marx, Friedrich Engels, Ferdinand Lassalle, Wilhelm Liebknecht und August Bebel. Doch bald darauf verwischt sich die Erinnerung an den großen Arbeiterführer und ersten deutschen Kommunisten Wilhelm Weitling. Heute kennt kaum noch jemand seinen Namen. Denn Weitling beging einen entscheidenden Fehler: Er beugte sich nicht der Autorität von Karl Marx.

Der lobte zwar noch im Jahr 1844 Weitlings Buch "Garantien der Harmonie und Freiheit" überschwenglich als "brillantes literarisches Debut der deutschen Arbeiter" und schrieb: "Vergleicht man diese riesenhaften Kinderschuhe des Proletariats mit der Zwerghaftigkeit der ausgetretenen politischen Schuhe der deutschen Bourgeoisie, so muß man dem deutschen Aschenbrödel eine Athletengestalt prophezeien." Tatsächlich waren Marx und Weitling jedoch erbitterte Rivalen: Nur zwei Jahre nach Niederschrift dieser Zeilen kam es zwischen den beiden zu einem heftigen Streit, der zur ersten Spaltung der Kommunisten führte.

Bis heute ist das Bild von Weitling durch die Sicht der Sieger dieser Auseinandersetzung geprägt. Der marxistische Historiker Franz Mehring formulierte es mit unübertroffener Prägnanz, als er aus Anlaß von Weitlings hundertstem Geburtstag im Jahr 1908 erklärte, warum er die Erarbeitung einer ausführlichen Biographie für wenig sinnvoll hielt: "Da wir von seiner Frühzeit wenig wissen, so würde sie darauf hinauslaufen, etwa drei Jahre eines glänzenden Aufschwunges und etwa dreißig Jahre eines unaufhaltsamen Niederganges zu schildern, und ich fürchte, daß an dieser Aufgabe auch die größte biographische Kunst erlahmen könnte."

Die Jahre des glänzenden Aufschwungs, auf die Mehring sich bezieht, begannen mit dem Erscheinen der ersten deutschen kommunistischen Programmschrift. Weitling verfaßte sie im Jahr 1838, zehn Jahre vor Erscheinen des Kommunistischen Manifests, im Auftrag des Bundes der Gerechten unter dem Titel "Die Menschheit, wie sie ist und wie sie sein sollte". "Ich verfaßte diese Schrift", erinnerte er sich später, "zu einer Zeit, in welcher ich jeden Abend bis 10 und 11 Uhr und jeden Sonntag bis 12 Uhr Nachmittags als Schneidergeselle arbeiten mußte (...). Sie erschien zu Ende des Jahres 1838 in Paris und wurde in 2000 Exemplaren verbreitet. Für die Druckkosten brachte die damals sehr kleine Zahl Gleichgesinnter manche rührende Opfer. Einige liehen dazu ihr Zimmer, andere arbeiteten nachts als Setzer, Drucker oder Buchbinder, noch andere gaben Geld, ja sogar in Ermangelung des Geldes ihre Uhren ins Leihhaus."

Die unscheinbare Broschüre, in der Weitling eine soziale Revolution fordert und die Grundzüge einer gütergemeinschaftlich organisierten Gesellschaft entwirft, katapultierte ihn zum Führer der deutschen Arbeiterbewegung. Bald darauf gab er seine Tätigkeit als Schneider auf, um sich ganz der Agitation und Organisation zu widmen. 1841 ging er in die Schweiz, um in den dortigen Arbeitervereinen zu wirken. Hier gab er unter dem Titel "Der Hülferuf der deutschen Jugend", später "Die junge Generation", die erste von Arbeitern für Arbeiter geschriebene Druckzeitschrift heraus. Darin finden sich bereits viele Gedanken, die er in seinem Hauptwerk "Garantien der Harmonie und Freiheit" dann noch einmal ausführlicher entwickelte. Das Buch erschien Ende 1842 und markiert Mehring zufolge das Ende des "glänzenden Aufschwungs".

Die Ankündigung seiner nächsten Schrift brachte Weitling dann nicht nur die Verfolgung durch die Zürcher Polizei und die Verurteilung zu fast einem Jahr Gefängnis im ersten Kommunistenprozeß der Geschichte ein – sie fand und findet auch fast durchgängig die Mißbilligung der marxistischen Historiker. Die nehmen ihm übel, daß er unter dem Titel "Das Evangelium der armen Sünder" ans religiöse Gefühl appellierte und die Bibel kommunistisch interpretierte. Sie entdecken darin ein Abgleiten in den Irrationalismus, einen Wirklichkeitsverlust, der sich in den folgenden Jahren verstärkte. Manche Historiker sehen in Weitling gar einen Fall für die Psychiatrie. Als er aus dem Gefängnis entlassen wurde, war jedenfalls nichts mehr mit ihm anzufangen, und das war im wesentlichen seine Schuld – so, pointiert formuliert, das immer noch vorherrschende Bild.

Tatsächlich dürfte Weitling nach seiner Haftentlassung zunächst Schwierigkeiten gehabt haben, mit der veränderten Situation zurechtzukommen. Zwar wurde er auf einem Meeting in London am 22. September 1844 als "Führer der deutschen Kommunisten" herzlich begrüßt. Doch die Diskussionen, die er bald darauf im Londoner Arbeiterbildungsverein führte, zeigten, daß seine Führungsrolle längst nicht mehr so unangefochten war, wie noch zwei Jahre zuvor. Damit mußte Weitling, dem die politische Einheit der Bewegung immer oberstes Gebot war, erst einmal zurechtkommen. Er brauchte einige Zeit, um zu erkennen, daß die kommunistische Bewegung Meinungsverschiedenheiten durchaus verkraften konnte, ohne gleich auseinanderzufallen.

Über elf Monate zog sich die Debatte hin, die vor allem Fragen nach der Reife der Bewegung, den Möglichkeiten, den Kommunismus einzuführen, und die Rolle von Verstand und Gefühl in der Propaganda thematisierte. Danach ging Weitling nach Brüssel, wo er mit Marx und Engels zusammentraf. Hier ging alles viel schneller.

In einer Sitzung des Kommunistischen Korrespondenzkomitees am 30. März 1846 widersprach Weitling der von Marx vertretenen Ansicht, es käme zunächst darauf an, der Bourgeoisie zur Macht zur verhelfen. Auch wehrte er sich gegen eine theoretische Vereinheitlichung unter den Kommunisten, die eine Trennung von bestimmten Strömungen und Personen zur Folge haben mußte. Marx soll daraufhin mit der Faust auf den Tisch geschlagen und gebrüllt haben: "Noch niemals hat Unwissenheit jemandem genützt!"

Sechs Wochen später wurde es ernst, als eine Erklärung gegen Hermann Kriege verabschiedet werden sollte, dem unter anderem Gefühlsduselei vorgeworfen und das Recht abgesprochen wurde, in New York im Namen der Kommunisten aufzutreten. Weitling weigerte sich, seine Unterschrift unter das Dokument zu setzen. Er konnte die Notwendigkeit, sich gegen Angehörige der eigenen Bewegung zu wenden, statt den eigentlichen Feind zu bekämpfen, nicht einsehen. Inhaltlich hatte er durchaus Kritik an Kriege, die er später auch öffentlich äußerte und sich dabei sogar zustimmend auf das Brüsseler Dokument bezog. Sein Protest galt der Verfahrensweise.

Der Streit beendete die gerade begonnene Zusammenarbeit. Weitling wurde von Marx mit Macht aus der Bewegung gedrängt. Eine Notwendigkeit für diese rigide Verfahrensweise ist nicht zu erkennen.

Bald nach dem Brüsseler Streit ging Weitling in die USA, kehrte aber beim Ausbruch der europäischen Revolution 1848 noch einmal als Delegierter der deutsch-amerikanischen Arbeitervereine nach Deutschland zurück. Als Redner auf Demokraten- und Arbeiterkongressen, Herausgeber einer eigenen Zeitung ("Der Urwähler") sowie in Beiträgen für verschiedene andere Zeitungen, bemühte er sich um eine Radikalisierung der Revolution, die für ihn "ihrem innersten Wesen nach eine Revolution des vierten Standes, eine Revolution der Arbeiter" war. Sein Auftreten – diese Erkenntnis verdanken wir vor allem den sorgfältigen Studien der DDR-Historikerin Waltraud Seidel-Höppner – hatte gleichwohl nichts Sektiererisches. Er kämpfte sowohl gegen die politische Abstinenz der genossenschaftlich orientierten Arbeiterverbrüderung wie gegen die Vernachlässigung der sozialen Frage bei bürgerlichen Demokraten. Für den von ihm in den USA gegründeten Befreiungsbund konnte er allein in Hamburg 800 Mitglieder gewinnen. Das war die zahlenmäßig stärkste kommunistische Lokalorganisation der Revolutionszeit. Im Zentrum ihrer Programmatik standen drei Forderungen: "I. Alle Beamten sind Arbeiter des Staats, und erhalten als solche den gleichen Lohn. II. Der Staat giebt Allen Arbeit, welche Arbeit verlangen, und lohnt sie dafür sie seine Beamten. III. Der Staat erhält alle Alten, Kranken, Krüppel, Kinder, und überhaupt Alle, die nicht arbeiten können und Erhaltung verlangen, so anständig, wie seine Beamten."

Im Sommer 1849 zwangen polizeiliche Verfolgungen Weitling erneut zur Flucht. Bevor er endgültig in die USA auswanderte, traf er sich in London noch einmal mit Marx. Der fragte ihn, ob er das Kommunistische Manifest gelesen und wie er es gefunden habe. Weitling antwortete, es hätte noch besser sein können. Später druckte er lange Auszüge daraus in seiner Zeitung "Republik der Arbeiter".

Anfang der fünfziger Jahre mobilisierte Weitling in den USA noch einmal Tausende von Arbeitern. Jedoch gelang es ihm nicht, sie dauerhaft in einem Arbeiterbund, dem auch kommunistische Kolonien angeschlossen werden sollten, zu organisieren. Im Sommer 1854 gestand er öffentlich das Scheitern seiner hochgesteckten Pläne ein. "Wenn man sich das höchste Ideal unsers Strebens (...) fest als Vorbild eingeprägt hat", schrieb er, "und damit vergleicht, was (...) in der Wirklichkeit erreicht wurde, so könnte wohl Mancher an der Wahrheit und Stichhaltigkeit jener Grundsätze und jener Organisation irre werden, welcher vergißt, den Verhältnissen Rechnung zu tragen."

Was es heißt, den Verhältnissen Rechnung zu tragen, erläuterte er mit einem kühnen Gedankenexperiment. Ein ganzes Menschenalter bevor in Rußland erstmals Kommunisten die Staatsmacht eroberten, stellte er sich die Schwierigkeiten vor, die der Aufbau des Sozialismus in einem einzelnen Land mit sich bringen würde: "Ein socialistisch organisirter und unter den andern Staaten isolirt dastehender Staat würde enorme Ausgaben für seine Vertheidigung gegen etwaige Uebergriffe der Nachbarstaaten nöthig machen. Derselbe könnte nicht ohne die Gefahren und Kosten einer stehenden Armee und – wenn er vom Meere begrenzt ist – nicht ohne eine bedeutende Kriegsflotte bestehen. Er müßte entweder die Nachbarstaaten seiner Organisation unterwerfen können oder sich so einschränken und einrichten, daß diese ihn duldeten. Derselbe könnte seine socialistischen Ausgleichungsmaßregeln nicht auf den ganzen Handel ausdehnen. Er würde sich Transaktionen in der Ausfuhr und Einfuhr unterwerfen müssen, welche einen, nach gerechten, gleichen Grundsätzen geregelten Austausch im Innern stören. Die Eigenthumsrechte der Außenwelt würden auf seine innere Organisation mit einwirken und zu störenden Modifikationen Anlaß geben."

Deutschland erlebte damals eine gigantische Auswanderungswelle. Zu Hunderttausenden verließen junge Menschen ihr Heimatland, zumeist in Richtung Amerika. Weitling rechnete vor, was für einen Aderlaß an gut ausgebildeten Arbeitskräften das bedeutete, und fragte: "Wird eine socialistische oder kommunistische Regierung dagegen nicht Maßregeln nehmen?" Sofern es ihr nicht gelänge, die Auswanderung in eigene Kolonien zu lenken, wäre sie genötigt, sie "einzuschränken und ihr verhältnißmäßig entsprechende Lasten aufzulegen". Mit dieser Prognose dürfte Weitling der erste Kommunist gewesen sein, der den Bau der Berliner Mauer und die damit verbundenen Probleme vorhergesehen hat.

Er faßte zusammen: "Die bedeutenden Kosten stehender Heere, einer Flotte, der Bau und die Erhaltung von Festungen, eine Armee von Grenzjägern und Mauthbeamten blieben doch hier auf Seite eines isolirt dastehenden, socialistischen Staates, sowie die dadurch leichter erregte und genährte Unzufriedenheit des Volkes. Nebenher noch die Gefahren eines solchen Zustandes für die jungen Freiheiten und Institutionen des Landes und die stete Aussicht nach Innen und nach Außen mit den angedeuteten ökonomischen Reformen einen Friedensbruch herbeizuführen."

Sind das die Worte eines "Systemkrämers" oder gar eines Psychopathen, bei dem von "Fortschritten seines politischen Denkens keine Rede sein" kann und der "mehr als je zuvor in der Utopie" steckengeblieben sei, wie ein Historiker einmal die herrschende Lehrmeinung auf den Punkt brachte? Wohl kaum. Die Klarheit und Weitsicht von Weitlings Analyse sucht nicht nur unter seinen Zeitgenossen ihresgleichen. Die Erfahrungen mit einer nur wenige Dutzend Mitglieder umfassenden kommunistischen Kolonie führten ihn zu Schlußfolgerungen, die sich erst viele Jahrzehnte später in größerem Maßstab bestätigen sollten.

Mit Weitling trennte sich die kommunistische Bewegung von einem ihrer klügsten Köpfe und begabtesten Führer. Die entstandene Lücke konnte später nie wirklich gefüllt werden. Das ist tragisch. Empörend dagegen ist der Umgang der Geschichtsschreibung mit Weitling, die sich zumeist darauf beschränkte, diesen Akt der Selbstzerfleischung im nachhinein zu legitimieren. In sozialistischen Staaten wie der DDR und der Sowjetunion war die Beschäftigung mit Weitling und das Bemühen, ihm historische Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, daher auch immer ein Kampf gegen erstarrte Denkkonventionen und für geistige Freiheit. Dieser Kampf hat auch nach dem Untergang dieser Staaten nichts an Aktualität verloren.